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Gespräch mit
Henning Klodt,
Oekonom,
Institut für Weltwirtschaft Kiel
und
Hannes Brunner
15.6.2001

B: Zu unserem Thema der Fusionen und Globalisierung. Ich habe Fragen zu Globalisierung und zu Megafusionen aufgestellt. Teilweise kommen sie aus dem Bauch heraus. Es geht darum, inwieweit Geldfluss, vor allem im Hinblick auf die Globalisierung, einen kulturellen Einfluss hat. Dies ist insoweit interessant, wenn man nachliest, was es überhaupt ist: Der immer abstrakter werdende Tausch! Da tauchen Parallelen zur ganzen Kunstgeschichte, zur Geschichte der Kultur in der Moderne auf, die eine Abstraktion erfunden hat.

K: Ja, ja natürlich.

B: Im Prinzip geht es in diesem Kontext um Werte und Wertvorstellungen. Ich möchte die Fakten heutiger Verbindungen von Wirtschaft, Geldfluss, Wert und Kultur besser beschreiben können. ... Das ist natürlich eine prinzipielle Frage, inwieweit auch Veränderungen, also kulturelle Veränderungen, an der Masse des Geldflusses festzumachen sind. Da kann natürlich ...

K: Ich denke, von der Definition ausgehend, so ist eigentlich Globalisierung eine Integration verschiedener Länder. Dann werden damit ja auch Länder integriert, die unterschiedliche Kulturen haben. Insofern könnte man sich schon denken, dass der wirtschaftlichen Integration eine kulturelle folgt. Was ... also ... ein Stichwort dazu wäre: Global Village. So ist vorzustellen, dass die Welt zu einem Dorf verschmilzt und damit im nachhinein auch die verschiedenen Kulturen. Das ist teilweise schon feststellbar. Doch gibt es auch Gegentendenzen. ... Es ist schichtspezifisch, ...

B: Schichtspezifisch?

K: Ja, ich denke, an die kulturellen Verschmelzungen kann sich nur die Oberschicht halten, ... Nun sagt man auch ganz plakativ, dass der deutsche Banker und der chinesische Banker mehr an Wertvorstellungen gemeinsam haben als der chinesische Banker mit dem chinesischen Arbeiter. Das war früher sicher anders, als die chinesische Kultur und die deutsche Kultur nichts gemein hatten. Heute gibt's, vielleicht eher oben raufgesetzt, eine Kultur der Leute, die sich international relativ frei bewegen, die dann auch gemeinsame Wertvorstellungen haben.

B: Doch damit stossen wir gerade auf die zentralen Probleme oder Tatsachen, die wir ja leben/erleben, wenn gewisse Fusionen gemacht werden, aber keine kulturellen Verbindungen bestehen. Darüber haben sie auch geschrieben. ...

K: Bei Fusionen von Konzernen denk' ich, ... klar, also eigentlich könnte man sich vorstellen, dass Fusionen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg eine Bereicherung würden, wenn eben die Leute, auf die es ankommt, eine ähnliche Kultur hätten. Eigentlich sieht man daran, wie es läuft oder wie es doch nicht läuft ... Aber dabei kann eigentlich von einer Einebnung kultureller Bestrebungen nicht die Rede sein. Es gibt nach wie vor beträchtliche Unterschiede in der Geschäftswelt, die Schwierigkeiten machen, wenn man Leute zusammenführt, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen kommen, wobei es sicherlich wesentliche Unterschiede gibt zwischen der asiatischen Kultur und der amerikanisch- abendländischen. Da bestehen sicherlich die grössten Unterschiede. Aber auch innerhalb Europa, ich meine zwischen der germanischen und der südeuropäischen Geschäftswelt gibt es Unterschiede, die sich auswirken. ...

B: Ich erinnere mich gerade an einen Artikel, den ich gelesen habe. Und zwar beschreibt dort Hans Günter Holl, ein Essayist, die Konzentration in der Moderne auf Tausch- oder Abstraktionsprinzipien, und er schlägt den Bogen zu der Hypothese, dass dies eine Vollendung des jüdisch-christlichen Monotheismus bedeute. Wir müssen jetzt in unserem Gespräch nicht weiter darauf eingehen, aber – es ist natürlich ein spannender Aspekt, vor allem wenn man über die verschiedenen Kulturen hinausgeht, in den asiatischen Raum, wo eine ganz andere Orientierung vorhanden sein kann.

K: Ja natürlich ist das ein gutes Beispiel, wie es in Asien gelaufen ist, und läuft – ich denke jetzt gar nicht an Fusionen, sondern an Arten des Wirtschaftens allgemein. Da haben sich schon ziemlich starke Dinger abgespielt! Noch vor zehn Jahren war es so, dass man auf einer Reise nach Japan angestaunt wurde, wenn man den Japanern etwas über ihr Land erzählen wollte, was ja auch etwas ungerecht war (lacht). In Europa wurde damals ganz stark die Position vertreten, dass das asiatische Wirtschaftsmodell doch dem europäisch-amerikanischen überlegen sei. Die Vorstellung, dass die westlich orientierten Länder stärker auf kurzfristigen Profit setzen, währenddem man in Asien eher auf langfristige Geschäftsinvestitionen setze, weil da auch das persönliche Vertrauen eine Rolle spiele, und, und, und. ... Dies wurde lange Zeit als Überlegenheit des asiatischen Systems gesehen. Häufig auch bei uns! Wir hatten die Diskussionen, wo Konrad Seitz sagt ...

B: Wer?

K: Konrad Seitz, der den Bestseller geschrieben hat über die japanische Herausforderung, und er sagte, Europa werde zur technologischen Kolonie aufgrund des Wirtschaftssystems und wir werden deswegen den Kürzeren ziehen. Doch dann "änderte sich zuerst" die Wirtschaft in Japan. Anschliessend folgten die grossen Währungskrisen, die Finanzkrisen, ja überall. In Malaysia und in den Philippinen, da fing es an. Seitdem ist es etwas leiser geworden um das asiatische Modell. Wenn man als Oekonom darangeht, dann sieht es eigentlich so aus, dass man, vom Lehrbuch her, einen Marktmechanismus im Kopf hat. Im Prinzip funktioniert der Marktmechanismus schon – von Ausnahmen abgesehen, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren, dass der Markt nicht überall funktionieren kann, klar (lacht). Aber er bezeichnet im Prinzip eine Steuerung, welche geeignet ist, Wirtschaftsbeziehungen zu regeln. Grund für fehlendes Funktionieren dieses Marktmechanismus im asiatischen Raum war nun mangelnde Transparenz. Das ist heute eine der wesentlichen Erklärungen der Finanzkrisen. Von Thailand ging es damals aus, anschliessend sind die ganzen südostasiatischen, ehemals stark aufstrebenden Länder in den Strudel gerissen worden. Und es fehlte eben häufig an Transparenz im Bankensystem, an Transparenz darüber, ob ein Investitionsprojekt Möglichkeiten biete, etc. Wenn man sich vorstellt, man lebt in einem System, wo keine Transparenz herrscht – wo ich also nicht anhand von Fakten überprüfen kann, ob das Investitionsprojekt, in welches ich investiere, solide ist oder nicht –, dann muss ich mich statt dessen auf persönliches Vertrauen verlassen ... hm. Durch diese Schlussfolgerung kriegt plötzlich das asiatische Modell wieder einen Sinn: als Art und Weise von Umgang mit der Intransparenz! Es ist natürlich so, dass die Leute, die die Fäden in der Hand haben, dieses Vertrauen auch vermitteln können. Die haben natürlich kein Interesse daran, das System zu ändern, und so kriegt man dann so weitverzweigte Netzwerke von Familienclans usw., die Geschäfte am liebsten untereinander machen würden, weil man in der Familie einander trauen kann. Aber dadurch werden Aussenseiter natürlich draussen vorgehalten, und die, die drin sind im Netz, denen geht es viel besser als unter einem marktwirtschaftlichen System, wo man sich mit lästiger Konkurrenz von aussen rumstreiten muss. Wenn man das so betrachtet, ist das eigentlich das ineffizientere System. So würde ich das auch heute sehen wollen. Natürlich ist das auch ein bisschen schwarzweiß gemalt.

B: Diese Systeme von Transparenz - Intransparenz stehen sich auch gegenüber. Das gilt auch, wenn man die kulturellen und gesellschaftlichen Situationen betrachtet. Wenn Krisen, Wirtschaftskrisen, etc. bestehen, ist die Tendenz des Rückzugs immer vorhanden. Ich nenn' es einmal ganz konkret: Fundamentalistische Ideen finden da guten Boden! Also der Rückzug in familienorientierte Systeme steht dann absolut im Vordergrund.

K: Unterdessen versteht man in Europa die asiatische Art ganz gut. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn bei einer gleichen Veranstaltung in Japan auch noch Amerikaner dabei sind, so merkt man ziemlich schnell, dass man als Europäer, und vielleicht gerade als Deutscher, sehr viel besseren Zugang zu den Asiaten hat als der Amerikaner, vor allem im Bereich der Wissenschaften, weil wir Europäer bei einem gemeinsamen Projekt auch eher eine Investition in eine längerfristige Vertrauenswelt sehen möchten, während die Amerikaner häufig sagen: Es geht jetzt um dieses eine Ereignis, und das wollen wir optimal über die Bühne kriegen. Was dann danach kommt, sehen wir in der nächsten Runde! Vielleicht kommt danach nichts mehr. Doch das spielt keine Rolle. Darin gibt's schon unterschiedliche Arten des Herangehens und Investierens.

B: Könnten sie dies auch bezüglich Fusionen sagen, die global gemacht wurden, jedoch als lokal nicht mehr fixierbare Konzernsysteme herumschweben? Müsste dies nicht gerade für Kleininvestoren oder Kleinproduzenten beängstigend sein? Wo sind die Kontakte, wo nicht – und vor allem mit Amerika?

K: Ich denke, Fusionen von Europa aus in den asiatischen Raum – oder auch nach Amerika – sind sehr, sehr schwer. Japan blockt ab und auch ganz offiziell. Also die Intention, eine japanische Firma aufzukaufen, das geht praktisch nicht! Auch die Zusammenarbeit ist insofern schwerer – wie auch bezüglich der Grundhaltung in einer strategischen Allianz –, da man sich nur innerhalb der westlichen Welt bewegt. Aber das heisst nicht, dass Fusionen immer nur in der westlichen-abendländischen Welt problematisch sind. Die Einstellung in den Amerikanischen Staaten ist viel eher auf kurzfristigen Erfolg ausgelegt, und in Europa geht es mehr um längerfristige Investitionen. Auch bei Investitionen, die den Aktienmarkt betreffen, will man in den USA den Ertrag nicht in zwei Jahren, sondern in zwei Monaten sehen! Die Unterschiede sind nach wie vor da und sie sind sogar immens wichtig. Tendenziell besteht natürlich eine gewisse Einebnung ...

B: Inwiefern. Ich versteh das nicht?

K: Also dass sich das Amerikanische Modell durchsetzt!

B: Und was hat das für Gründe, Ursachen?

K: Ich denke, es ist einfach überlegener!

B: Überlegener?

K: Ja, das ist ganz einfach: Wenn ein Amerikaner und ein Franzose die gleiche Sache anpacken, dann wird der Amerikaner, mit seiner Art und Weise, an die Dinge heranzugehen, sich vehementer einsetzen, und das setzt sich dann auch durch. Das ist heute wirklich ein Wettbewerb der Systeme, der sich nicht im Kalten Krieg der Ideologien vollzieht, sondern eben vor Ort ... täglich! ...

B: Also der Stärkere ist der Bessere?

K: Ja ja, ... und so funktioniert der Markt dann auch ... oder besser: So irgendwie funktioniert der Markt dann DOCH!

B: Gut. Aber Sie haben in Ihrer Publikation über Megafusionen ein paar Beispiele erwähnt, wo es nicht so war. Wo die Europäer vehement und mit Erfolg versucht haben, sich durchzusetzen. Z.B. uneingeschränkte Rechte Amerikanischer Airlines auf Flughäfen wurden abgelehnt. K. Ja, das beruht natürlich auf der Tatsache, dass die Amerikaner versuchen, ihre Position immer durchzusetzen. Wenn man mit einer amerikanischen Firma einen Vertrag abgleicht, wird immer amerikanisches Recht gelten; und häufig ist auch der Gerichtsstand in den USA. So muss man allein deswegen schon nach Amerika fahren oder sich eine amerikanische Kanzlei nehmen. Da finden es die Amerikaner absolut realistisch, die amerikanische Auffassung durchzusetzen. Wir sehen es derzeit auch beim Streit um den Sitz des Internationalen Gerichtshofes. Der Streit kommt daher, dass sich der Amerikaner nicht vorstellen kann, einen amerikanischen Soldaten vor ein anderes als vor ein amerikanisches Gericht zu stellen.

B: Nochmals zurück zu den Investitionen in Verbindung der Globalisierung: Welche Möglichkeiten zur lukrativen wirtschaftlichen Investition im lokalen Bereich sehen Sie – als Prognose – für Orte, deren Kapital sich hauptsächlich auf einen Konzern stützt? Waren ähnliche Tendenzen bereits schon mal vorhanden, zum Beispiel Monokulturen? Werden ähnliche Problematiken bei globalen Konzernen aktuell?

K: Ja und nein, also ich sehe die Gefahr nicht, dass nur noch die grossen Konzerne da sind und alles andere um einen rum umkommt. Das sehe ich eigentlich nicht so. ... Wir haben natürlich eine Fusionswelle von noch nicht bekannten Grössen der Zusammenschliessungen. Wir stellen aber auch eine Ausweitung der Märkte fest! Solange Märkte schneller wachsen als Unternehmen, sind Unternehmen – relativ gesehen – nicht grösser geworden, sondern vielleicht sogar kleiner! Und wir sehen ebenfalls in der Produktionstechnologie, dass es sich lohnt, gerade in der derzeitigen Umbruchsphase, in viele Lücken einzusteigen – die ganze New Economy gibt es ja gerade erstmal seit kurzem! Da gibt es natürlich auch viele Flops, aber auch ...

B: Ja natürlich entspricht die Krise der New Economy eher einem Gesundschrumpfen ...

K: Ja, ... aber wir haben auch viele, die es geschafft haben. Von daher, so denk' ich, ist Platz genug. Die Tendenz also, dass die grossen um sich rum alles ersticken, würde ich so eigentlich nicht sehen. Das mag anders sein, in der Dritten Welt, wenn da an eigenständiger Wirtschaft gar nichts vorhanden ist, und dann ein grosser Konzern dahingeht und alles dominiert. Aber da fragt sich natürlich auch, wo wäre die Alternative: Wenn nichts da wäre, dann wäre gar nichts vorhanden. ...

B: Das würde dann dieser Monopolisierung entsprechen, die ich meinte? Was würden sie denn heute als Dritte Welt bezeichnen?

K: Dritte Welt gibt es eigentlich nicht. Die Dritte Welt ist sehr, sehr heterogen.

B: Es gibt sie eigentlich nicht mehr. Also man kann wahrscheinlich nicht von einem nicht mehr beachteten oder vor sich hin vegetierenden Afrika sprechen, aber ...

K: Gut, ... ein anderes Beispiel wäre, was wir in der Zwischenzeit in Bangladesch erleben. Das ist ein riesiges Problem. Es liegt direkt neben Indien. Indien berappelt sich, natürlich auch in einer immensen Spannbreite. Der Trend ist gegeben, aber in Bangladesch passiert gar nichts.

B: Herrscht da nicht eine familienorientierte Investitions- Wirtschaftssituation?

K: Ja, das heisst dann Korruption, als Problem. (lacht)

B: Klar ...

K: Das eigentliche Problemkind natürlich ist Schwarzafrika, wo sich seit Jahrzehnten gar nichts getan hat. Und die Bevölkerung wächst schneller als das Sozialprodukt. Da geht es wirklich bergab. Mit Ausnahmen vielleicht, wie Südafrika.

B: Afrika ist sicher ein Thema, welches noch einmal speziell aufgegriffen werden sollte. Doch zurück: Was ich – intuitiv – die kulturelle Situation bezeichne: Die Tendenz zu Monokulturen besteht also nicht und es wird genug Platz geben für kleinere Investoren. Doch wie ist die Beziehung zu den grossen Konzernzusammenschlüssen, die so nicht mehr handhabbar sind, die oft losgelöst von den Staaten, dem Nationalstaat, existieren?

K: Meistens haben sie irgendwo ein Headquarter, einen Konzernsitz.

B: Oder einen Briefkasten ...?

K: (lacht) Wenn es natürlich nicht so ein grosser Konzern ist, denn ich glaub' nicht, dass DaimlerChrysler nach Liechtenstein gehen wird.

B: Aber Banken doch ?

K: Banken schon, unter Umständen ... Aber die Deutsche wahrscheinlich auch nicht.

B: Aber was kann sich durch Fusionen entwickeln – wenn ich das auch positiv sehe – für den kulturellen Bereich, der ja einen lokalen Charakter hat? Eine Frage, die immer wieder auftaucht: Wo bleibt die Identifikation des Arbeiters, der lange Jahre bei Daimler gearbeitet hat? Kann sich der jetzt mit dieser neuen Konzernstruktur identifizieren, die auf einmal zwei verschiedene Autos als Image verbindet? Er weiss ja, sein Kollege in Detroit identifiziert sich mit Chrysler. Ist rein menschlich so etwas überhaupt vorstellbar?

K: Die persönliche Identifikation mit der Arbeit ist sicherlich stark im Umbruch. Die Positionen bei Daimler wurden früher ja vererbt! (lacht). Das ist sicherlich ein Auslaufmodell. Ich würde vermuten, dass sich heute der Daimlerarbeiter mit dem Daimler identifiziert und der Chryslerarbeiter mit dem Chrysler! Aber das löst sich natürlich auf! Der Roverarbeiter war nie bereit, sich mit BMW zu identifizieren. Und dann endete praktisch alles da, wo Rover auch nicht mehr existiert hat.

B: Wenn Sie sagen "es löst sich auf", was ist vorstellbar in Sachen wirtschaftliche Tendenzen? Was kommt vermutlich als Ersatz dafür? Wird es eher etwas sein, was wir übrig haben durch die Informationsgesellschaft, z.B. dass man sich mit den Aktien identifiziert?

K: Sicherlich tritt eine weitere Individualisierung anstelle dieser Identifikation, die wir hier haben. Wir haben in unserem Gespräch den grossen Bogen geschlagen – und Sie haben ihn ja angesprochen – Die Moderne ist ja die Individualisierung, die so irgendwie um die Jahrhundertwende des 20. Jh. eingesetzt hat. Damit ist die Grossfamilie aufgelöst worden. Im Moment sind wir gerade dabei, die Kleinfamilie aufzulösen, würd' ich sagen. Natürlich fehlt da was! Wir haben ja in Ostdeutschland gesehen, dass der Ersatz für Gross- und Kleinfamilie der soziale Zusammenhalt im Freundeskreis war. Dadurch war es möglich, sich gegen die Staatswirtschaft, gegen die internen Ideologien, gegen die ständigen Probleme durchzusetzen, irgendwelche Dinge zu erhalten, die es sonst nicht gab. Das war für die Ostdeutschen wirklich ein Schock, als sich diese soziale 'Nestwärme' aufgelöst hat. Das Nest ist weg! Und wenn ich das auch für Westdeutschland sehe, dann ist das Nest immer zugefüllt worden, ohne dass es dafür einen Ersatz gab! Es gibt natürlich Gegenbewegungen, klar ... Eine Sprache gegen die Globalisierung scheint mir das Aufkommen des Nationalismus zu sein, womit ich ehrlich gesagt nicht gerechnet hätte, von dem man geglaubt hatte, er sei schon längst passé! Doch mit Hass zwischen verschiedenen Nationen glaubt der Nationalismus Identifikation zu schaffen. Das Auflodern des Balkankrieges, das Auseinandergehen der Slowaken, usw . ... Also rein oekonomisch gesehen war das nicht klug! Zumindest für die Slowaken nicht. Es gab nur Freiheitsbewegungen, die auf Defizite bauten! ...

B: Ja, so gibt es einerseits die parallel existierenden Tendenzen von Nationalismus bis zum Fundamentalismus, wo die andere "intransparente" Wurzel hochkommt. Die Orientierung liegt da in der Familie, teilweise völlig patriarchalisch ... und auf der andern Seite eben, was ein zunehmendes Abstrahieren des Lebens und des Wirtschaftens ist. Durch die Informationsgesellschaft werden Möglichkeiten geschaffen, aber auch ein Vakuum aufgebaut, und so ist die Frage, was ist nun besser. Ist es dieser neue Geldbegriff, den wir haben, der immer wichtiger wird? Aber gerade nicht als Fetisch – mit dem Anbeten des goldenen Stiers, von der jüdischen-christlichen Religion in den Schriften von Moses beschrieben – sondern es handelt sich um eine völlig abstrahierte Ebene.

K: Nun – das Investieren und Wirtschaften wird ja letztlich getrieben von einzelnen handelnden Menschen! Es sind keine Naturgesetze und es handelt sich nicht um Verschwörungen irgendwelcher Gruppen und mächtiger Leute. Es ist nun mal so, dass offenbar überall auf der Welt die Leute das unstillbare Bedürfnis haben im McDonald's zu essen. (lacht) Oder CocaCola zu trinken, und das ist der Siegeszug des American Way of Life an sich. Der ist ja an McDonald's und CocaCola fantastisch festzumachen. Ich glaub nicht, dass es noch irgend ein Land gibt, wo es keinen McDonald's gibt. Vielleicht Kuba? Weiss ich nicht. (lacht) Den Leuten fehlt natürlich andererseits die kulturelle Identität oder die 'Nestwärme'. Aber wenn sie die Wahl haben, in die Nestwärme zu investieren, oder doch noch bei McDonald's den Hamburger zu essen, dann entscheiden sie sich doch – in der Realität – dafür, den McDonald's zu besuchen.

B: Vielleicht, weil eine etwas zukunftsweisendere Identität zustandekommt?

K: Ja ...

B: Es gibt auch das Phänomen des billigen, schnellen Luxus'.

K: Auch weil wir hier die Problematik eines öffentlichen Gutes erwähnen. Also wenn ich in das Sozialklima investiere, dann kann ich davon ausgehen, dass mein Markt relativ gering ist, dass ich da nicht viel profitiere, wenn ich da investiere. Wenn es alle tun würden, dann würde es funktionieren. Schliesslich kommt aber der 'Schwarzfahrer' und sagt: Wenn alle anderen das tun, dann muss ich selber nicht auch noch investieren, aber ich habe, wenn alle es getan haben, meinen Nutzen von diesem sozialen Klima. Bei McDonald's stellt sich diese Frage nicht mehr. Da geh' ich rein und ich hab den Hamburger, oder ich geh nicht rein und ich habe ihn nicht! Das ist ein rein privates Gut, wofür ich mich selber entscheiden kann. Und wo es nicht von den anderen abhängt, kann ich niemanden beeinträchtigen. So bleibt es irgendwie üblich – in der Menschheitsgeschichte –, dass man den Verfall der Loyalität beklagt, und gleichzeitig betont, es mögen doch alle zur Restauration der guten Werte beitragen. Jedoch herrscht doch die Handlung nach den eigenen Werten vor! Es gibt da ein Zitat, was meint: Wir erwarten vom Bäcker auch nicht, dass er uns die Brötchen liefert, nur weil sie unserem Wohl dienen, ohne dass er Profit machen würde. Wir freuen uns natürlich, dass er uns das Brot backt, doch erwarten wir es nicht nur zum Gemeinwohl. Wenn man dem Eigennutz wirklich freie Hand lässt, dann kann es zum Wohle aller sein. Doch funktioniert es natürlich nur da, wo es um Privatgüter geht, da, wo das einzelne Gut für eine einzelne Person produziert wird. Wenn es aus irgendeinem Grund auf öffentlichen Wunsch hin gemeinsam produziert wird, verhält sich das anders, weil ich als einzelner immer versucht bin, mich als Schwarzfahrer zu begreifen. ...

B: Weil man sich als Schwarzfahrer ja dadurch auch ein bisschen Mehrwert für sich selbst verspricht ...

K: Ja ...Wie gesagt, wenn alle an dem Sozialklima schaffen – und was ich an Einstellung mitbringe – ich hab ja nichts damit zu tun und das geht dann so weiter. Nun, ... wenn alle aber es nicht tun und ich entscheid' mich jetzt, ein sozialer Mensch zu werden, dann würde die Welt kein bisschen besser werden. ... So denk ich, dass es eine wirtschaftliche Erklärung gibt, wieso sich eigentlich soziale Gruppen immer stärker auflösen. Man könnte das noch ein bisschen unterfüttern damit, dass der Staat mit der gesetzlichen Sozialversicherung auch etwas dazu beigetragen hat, dass die Solidarität des Ausgleichs innerhalb der Familie aufgelöst wird.

B: Ja, jedoch wehre ich mich etwas gegen die Behauptung, dass sich soziale Gruppen auflösen, ich denke, solche Tendenzen gibt es immer wieder, und so wie ich irgendwie glaube, dass ...

K: Die werden immer kleiner, die Gruppen!

B: Die werden kleiner, aber auf der anderen Seite werden auch Gemeinden grösser...

K: ... Da gibt's übrigens interessante Modelle, die sich fragen – also in der Realwirtschaft: Wie gross ist das ideale Netzwerk. Das kleine Netzwerk leidet daran, dass man nicht genug Impulse hat von verschiedenen Leuten; das grosse Netzwerk leidet, weil man nicht genügend in die Tiefe gehen kann. Und da muss man eben Überlegungen starten, wie man dieselben stabilisiert. Das kann implodieren oder explodieren und die Frage bleibt: wie schafft man es, gerade ein Optimum zu erreichen?

B: Vielleicht indem es Kontextbezogen aufgebaut wird. Denn jeder Kontext verlangt eine spezifische Grösse, die sich als optimal darstellen lässt.

K: Natürlich, doch hat man es ja nicht in der Hand, ob nun die Gruppe von 24 oder 200 Gliedern wächst oder schrumpft.

B: Dies bringt mich auf einen weiteren Problempunkt: Sie haben sich in einer Ihrer Publikationen zu der Rolle des Konsumenten geäussert.

K: Ja ...

B: Und dabei das Desinteresse des Konsumenten am eigentlichen Produktionsprozess erwähnt.

K: Ja, normalerweise interessiert den Konsumenten nicht, wie etwas produziert wird.

B: Genau!

K: Mit der Ausnahme der Thunfischkonserve, (lacht) die mit oder ohne Delphinbeilage produziert werden kann. Übrigens sind da sehr interessante kulturelle Unterschiede besprochen worden. Ein bekannter Theoretiker, ein Inder, der in den USA lehrt, hat darüber geschrieben. Er sagt: Die Delphinpräferenz ist Kulturimperialismus! Er würde sich als Inder nicht von einem Europäer vorschreiben lassen, ob er einen Hang zu Delphinen hat oder nicht. (lacht)

B: Natürlich, dies betrifft die lokal und kulturell-ethisch bezogenen Werte, worin schon Unterschiede existieren. Wo findet man da Ebenen, dieses Geflecht gemeinsam zu regeln?

K: Nun, im erwähnten Beispiel ist man bestrebt, diese (Delphin-)"Schlächter" weltweit zu ächten und auch die Inder mit einzubinden und sie möglicherweise auch zum Boykott aufzurufen und zu verpflichten: Wenn ihr nicht mitmacht, dann ... Grüne Gedanken sind, glaub' ich, etwas Westliches ...

B: Natürlich, man geht ja in Europa viel stärker davon aus, man habe etwas falsch gemacht. Man muss büssen für etwas ... und man muss irgendetwas wieder gutmachen. Das treibt ja den oekologioschen Bewusstwerdungsprozess.

K: Andererseits haben wir natürlich nur einen Globus! (lacht)

B: Eine andere Frage: Einerseits kommt man nach wie vor mit dem Volksglauben über die Runden, Geld ist nicht schön, doch ist es beruhigend, wenn man weiss, man hat es – und andererseits werden die Forschungen nach Marktankurbelungen zwecks besserer Investitionen immer komplexer und damit auch unvorstellbarer. Welche Ebenen der Untersuchungen dieser ganz bodenständigen Verhältnisse und ziemlich virtuellen Spielereien lassen sich dabei anwenden? Gibt es da Methoden, Verbindungen?

K: Was man feststellen kann: Einerseits verbindet die in Richtung 'global village' verstärkte Vereinheitlichung den Konsumenten über Regionen hinweg. Also zum Beispiel die Autokonzerne versuchen, Autos zu bauen, ein bestimmtes Modell. Nicht für einen Markt, sondern für alle Märkte! Andererseits ...

B: Also, ich bau' dieses Auto hier, wo es benutzt wird, und das andere für den andern am andern Ort.

K: Ja, andererseits, innerhalb der Regionen oder über die ganze Palette hinweg, sind doch starke Auffächerungen feststellbar. Das ist sicherlich auch ein Wert an sich: die Konsumenten zwischen den verschiedenen Regionen unterscheiden sich zwar nicht mehr so sehr, aber sie legen immer grösseren Wert darauf, sich innerhalb ihres Bereiches von ihrem Nachbarn abzugrenzen. Das wird natürlich auch stark unterstützt durch die Technik, die es erlaubt, mit geringem Aufwand herzustellen ... Aber das war keine Antwort auf Ihre Frage, denk' ich ...

B: Nein, aber es bestätigte mir die Vorstellung, die ich mir versuche zu machen – jetzt müsste ich die Wandtafel für eine Skizze benutzen – Ich habe die Vorstellung: Es gibt die kleinen Orte, die Regionen, die Quadrate hier unten, und darüber, über allen, steht als Block – oder schwebt – eine Art Wolke, unvorstellbar, dimensionslos: Der Konzern. Die Frage ist also, ob das Produzieren an einem einzelnen Ort nur wiedergibt, was man da in dieser Region haben möchte ...

K: ... Sie meinen, dass es nicht passt (zu dem übergeordneten System/Konzern)

B: Ja, ... und andererseits könnte diese Konzernstruktur, welche eigentlich nicht fassbar ist, auch eher als eine neue nomadisierende Situation der Werte aufgefasst werden.

K: Sicherlich.

B: Man könnte sich also vorstellen, diese Regionen sind nur Handelsorte, wo Produkte ausgetauscht und gehandelt werden. Es gibt ja einen Tausch von Devisen und Produkten. Ob das dann in der vertikalen funktioniert, also in der Linie von den unteren Quadraten zum Block darüber ...

K: Aber, wenn die Leute in den einzelnen Regionen ihre massgeschneiderten Produkte wollen, dann wird ja der Konzern, oben in der Wolke, der diese massgeschneiderten Produkte liefert, mehr verdienen als jener, der nicht das massgeschneiderte Produkt herstellt. Nur die Tatsache, dass dieser Konzern da drüber liegt, heisst ja noch nicht, dass im einzelnen die Identität aufgegeben wird!.

B: Das ist meine Frage ...

K: Ich denke eher, die Leute wollen es doch! Sie wollen diese 'Hamburger' haben! ...

B: Aber ist es denn so, dass zwischen dem oberen Block und den unteren Quadraten Meta-Ebenen der Produktion entstehen?

K: ... Schichten entstehen, verschiedene Schichten, so könnte man es darstellen.

B: Ich verstehe, ... und in den Produktionsblöcken wird produziert.

K: Genau, jedoch die Identifizierung mit dem Unternehmen beim Bandarbeiter geht sicherlich zurück.

B: Das denke ich auch. Das ist auch eine Frage zu der Arbeit: In welcher Weise identifiziere ich mich noch mit ihr? Wäre es eigentlich möglich, dass ich mich mit dieser Wolke als Konzernstruktur identifiziere, also dem eher nicht mehr fassbaren abstrakten Gebilde? Welche Ebenen der Abstraktionen würden hier vorgeführt?

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